Die extra eingepackte Taschenlampe bleibt arbeitslos. Immer wieder zischt eine Rakete über den Kopf hinweg und erhellt den Himmel über der Bergehalde in Neonrot, Knallblau oder im satten Grün. Kleine Schreckmomente gibt es, wenn rechts und links im Wald ein Böller explodiert. Wer meint, er hätte als einziger die Idee gehabt, die Silvesternacht 145,8 m über Höhennormallnull zu verbringen, der hat sich heftig getäuscht. Schon 45 Minuten vor der magischen Stunde sind kleine Pilgerströme auf den Serpentinen unterwegs.
Die Leuchttürme aus Stahl und Plexiglas leuchten blau den Weg hinauf. Hin und wieder hört man ein Schnaufen knapp unterhalb oder oberhalb der eigenen Serpentine: Mancher muss kurz mal verschnaufen, denn es geht ganz schön steil hinauf. Andere nehmen gleich den direkten Weg durch den Korridor, der fast direkt auf die Plattform führt. Wummerte Technomusik, Sekt- und Bierflaschen sind die Begleiter auf diesem reichlich unkomfortablen Weg durch die Botanik.
Zum Ziel auf dem Plateau weisen nicht nur die 14.400 LED-Lampen der 30 Meter hohen Lichtskulptur „Impuls“. Immer zwirbeln sich hier Kaskaden aus explodierendem Licht in die Höhe. Die ersten Hobbyfeuerwerker schießen sich bereits warm. Auch in den Serpentinenschleifen mit freier Sicht richten sich die ersten Silvestergruppen ein. Die Raketen und Batterien werden aus der Verpackung geschält. Die Sektflaschen werden eifrig geleert, damit die stilechten Abschussvorrichtungen bereitstehen. Musik schallt hier und dort aus der Dunkelheit, in die sich hin und wieder der fast schon volle Mond durch dicke Wolken hineinkämpft.
Außer Atem sind jedenfalls alle, die auf dem Plateau ankommen. Denn die Stufen hinauf scheinen unendlich. Der stramme Wind hat sich hier oben, auf der höchsten Erhebung im östlichen Ruhrgebiet, zu einem kleinen Sturm weiterentwickelt. Die Haare flattern in die Sektgläser hinein, die mancher hier schon in den Händen hält. An den Regenjacken und Schals reißen die Böen. Ein Hut fliegt durch die Luft, sein Besitzer rennt hinterher. Mancher Böller schlägt eine ganz andere Richtung ein, als von ihren Werfern ursprünglich gedacht. Nicht ganz ungefährlich ist das, was einige mit fröhlichem Blutalkoholpegel eine Viertelstunde vor Mitternacht mit den Feuerwerkskörpern anstellen.
Fulminante Sicht und laufende Nasen im Sturm
Inzwischen wird es eng auf dem Plateau, denn es kommen immer mehr Feierlustige. Kein Wunder, die Sicht ist fulminant, obwohl es kurz zuvor noch geregnet hat. Das Werksgelände von Bayer ist wie ein eigenes Lichtkunstwerk komplett illuminiert. Die Friedrich-Ebert-Straße sticht erleuchtet aus der Dunkelheit hervor. Der Flughafen in Dortmund ist mit seinen erleuchteten Landebahnen glasklar zu erkennen. Immer wieder explodieren kleine Pilze, Kugeln, Fächer, Sternenregen über der Landschaft. Industrie- und Logistikflächen stechen als Lichtkegeln hervor. Die Nase läuft beständig im Wind, die Hände und Füße frieren langsam ein.
Dann zählen alle von drei an rückwärts, die Lichtsäule geht aus und es rufen sich Wildfremde gegenseitig fröhlich ein frohes neues Jahr zu. Im selben Augenblick wird es fast taghell in allen Himmelsrichtungen. Ein Teppich aus funkelnden Lichtexplosionen breitet sich bis zum Horizont aus. In den jetzt überall gezückten Handys spiegelt sich ein grandioses Schauspiel, in dem der Wind nun vor lauter Knallen, Zischen, Rauschen, Knattern und Böllern nicht mehr zu hören ist. Menschen liegen sich in den Armen, küssen sich, stoßen an oder schauen einfach nur gebannt in die Ferne.
Eine Gruppe aus Werne freundet sich gerade mit Bergkamenern an. Keiner hat den anderen je gesehen. Egal, heute ist Silvester, da lernt man sich kennen. Aus Köln ist sogar jemand dabei. Ein Ehepaar aus Unna ist mit dem Wohnmobil gekommen. „Es hat sich gelohnt“, meinen die beiden, die sich dick in Schals, Mützen, Thermojacken und Kapuzen eingemummelt haben. „Die Aussicht war wirklich grandios und es war ein tolles Schauspiel.“ Einer Fotografin stürzt final das Stativ auf den Kopf: Der Wind hat es fortgeweht.
Der Parkplatz ist jetzt randvoll und es entsteht ein kleines Chaos, als Fußgänger mit ausparkenden Autofahrern kollidieren. Auch auf dem Rückweg ist Vorsicht angesagt. Angeheiterte Feiernde halten nicht immer die exakte Richtung, von den Bürgersteigen fliegen hier und dort knallende Geschosse vor die Motorhaube und spontanes Ausweichen ist dort gefragt, wo Feuerwerksbatterien mitten auf der Straße in hellen Flammen stehen. Die ersten Feuerwehrautos und Polizeiwagen sind die einzigen, die jetzt mit Blaulicht unterwegs sind. Selbst auf der Autobahn sind nur vereinzelte Fahrzeuge zu sehen. Auch das ist ein wirklich einmaliges Erlebnis in dieser Silvesternacht.
Sehr schöner Artikel. Tolle Fotos. – Vielen Dank und ein gutes neues Jahr dem bergkamen-infoblog.