von Andreas Milk
Was Carlos H. (alle Namen geändert) am Morgen des 21. Februar vor der Pfalzschule erlebte, brachte ihn in Rage – und nun als Angeklagten vor den Kamener Amtsrichter. Es war kurz vor 8 Uhr. H. brachte mit dem Auto seinen Sohn zum Unterricht. Er sah, wie auf der Straße der zehnjährige Marvin dem zwei Jahre jüngeren Julian zwei Mal auf den Kopf schlug. Carlos H. stoppte. Er ließ seinen Sohn aussteigen und sprach mit dem kleinen Julian. Der soll ihm erzählt haben, Marvin schlage ihn jeden Tag. H. schnappte sich Marvin – um, wie er sagt, mit ihm zur Schulleitung zu gehen: Die müsse doch etwas tun. Marvin sträubte sich. Und dann passierte es: Dem 30-jährigen Carlos H. rutschte gegenüber dem zehnjährigen Schüler eine strafbare Beleidigung heraus. „Du Scheißkind!“ – so stand es in der Anklage. Und so gab es H. auch im Gerichtssaal zu.
Angesichts der Umstände hielt der Richter eine Verfahrenseinstellung für angebracht – einen „Freispruch zweiter Klasse“. H.s Verteidiger fand, es hätte gar nicht erst zu einer Anklage kommen dürfen. H. selbst sah ein, dass die Beleidigung wohl daneben war – aber: „Ich wollte nur helfen.“ Die Staatsanwältin allerdings wollte den Fall nicht einfach abhaken – sondern eine Verurteilung. Der Grund: H. hat Vorstrafen wegen Körperverletzung und Beleidigung. Das „Scheißkind“ wollte sie deshalb mit drei Monaten Haft auf Bewährung geahndet sehen.
Es kam anders. Der Richter verwarnte Carlos H. und verhängte eine Geldstrafe von 200 Euro auf Bewährung. Der herzkranke Frührentner braucht also nicht zu zahlen – es sei denn, es passiert wieder etwas.
Die Mutter des geschlagenen Julian hatte seinerzeit den mutmaßlichen Prügler Marvin strafrechtlich belangen wollen. Aber Marvin hat Glück. Zehnjährige sind nicht strafmündig.