In der neuen Galerie „sohle 1“ durfte man am Sonntag dem ersten Eindruck nicht immer trauen. Bei der Jahresausstellung der Künstlergruppe kam es oft auch auf den zweiten und dritten Blick an. Auch wenn es sich um Porträts und Menschenbilder handelte: „Wir sehen immer nur das Bild eines Menschen, nicht den Menschen selbst“, mahnte Dr. Heinrich Th. Schulze-Altcappenberg bei der Einführung. Und der stv. Bürgermeister Kay Schulte stellte fest: „Bei Bildern geht es immer um das schnelle Reagieren – und wir es spielen Empathie, Sympathie, Abneigung oder Vorwissen eine Rolle.“
Aus der Nähe waren es nur unzählige Pixel. Wer ein paar Schritte zurücktrat und einen zweiten und dritten Blick riskierte, vor dessen Auge formten sich langsam ganz andere Szenen. Graffiti aus anderen Welten waren hier abgebildet. Porträts der eigenen Art. Was der Betrachter zuerst zu sehen glaubte, verwandelte sich aus einer anderen Perspektive. 1998 fand die erste Jahresausstellung als „Wegmarke“ statt. Damals unter dem Motto „Visitenkarten“. Jetzt sind es Porträts und die sind ganz dicht dran an dem ersten Thema.
Dabei war es die zweite Jahresausstellung in den neuen Räumen des Museums, das noch immer nicht vollständig umgebaut ist. Zum letzten Mal mit Simone Schmidt-Apel als Kulturreferentin. Anders als in den alten Räumen versammelten sich die vielen Gäste nicht mitten zwischen den Kunstwerken für die Ausstellungseröffnung. Sie mussten die ersten Eindrücke aus den Ausstellungsräumen mit in den Vortragsraum nehmen und konnten nur durch eine offene Tür einen Blick auf die weit entfernten Gemälde, Fotografien, Skulpturen, Drucke und Collagen erhaschen. „Wir sind gespannt, welche Eindrücke sich in unseren Köpfen am Ende mit dem Gesehenen decken, ergänzen oder verändern“, so Silke Kieslich vom Vorstand.
Gastkünstlerin aus der Ukraine
Besonders eindrücklich waren die Porträts der Gastkünstlerin Anastasila Kononko. Die Ukrainerin hat in ihrer Heimat und bei ihren Reisen Menschen porträtiert und ihnen die Fotos geschenkt. Darunter auch ihre erste Lehrerin. Das Porträt selbst bildete sie stets noch einmal mit den Porträtierten ab. So entstand zusätzlich ein Bild im Bild. Ein interessantes Spiel mit Realitäten, die – egal ob in der kriegsgebeutelten Ukraine oder in Indien – besondere Assoziationen und Hintergrundwissen in die Beurteilung des Bildes einfließen lassen.
Nicht verabredet war die Abbildung des fremden, anderen Menschen in vielen Bildern, was sich schließlich zum Leitthema entwickelte. Wie immer gab es Werke, die unmittelbar für das Thema entstanden. Andere waren wie ein Porträt aus Serpentin schon vor 30 Jahren unter dem Einfluss der Begegnung mit einer Künstlergruppe in Afrika entstanden. Andersherum entwickelten sich mit ähnlichen Stillagen völlig andere Aussagen. „Die einzigartige Individualität des Menschen wird gezeigt – und die Tatsache, dass der Mensch selbst unbestimmbar bleibt“, so Schulze-Altcappenberg.
Von Porträts einiger Berühmtheiten über Frauenporträts bis zu einbandagierten Köpfen oder abstrakten Körpern aus Holzelementen: „Es ist nur momenthaft, was wir sehen – der Schaffensakt und unsere Vorstellung vom gezeigten Menschen bzw. die des Künstlers.“ Wie viel mehr noch hinter dem vordergründigen Blick auf das Porträt steckt, zeigt eine kritische Auseinandersetzung mit der philosophischen Behauptung Blochs, der im menschlichen Gesicht die „einzige Sprache, die jeder versteht“ sieht. „Sehen wir wirklich, was wir sehen?“, fragte Schulze-Altcappenberg und warf das Pokerface Putins, das maskenhafte Lächeln des chinesischen Staatschefs oder das viel zu freundliche Gesicht der kundenorientierten Verkäuferin in die Waagschale.
Ob man dem Bild eines Menschen überhaupt trauen und hinter die Fassade schauen kann: Diese Beurteilung bleibt jedem selbst überlassen. Der Besuch dieser Wegmarken-Ausstellung hilft bestimmt dabei und bietet hervorragende Beispiele, gleich in mehrere Dimensionen abzutauchen.