Jürgen Becker legt beim Disco-Abend den Hebel um

image_pdfimage_print
Mit Vicky Leandros synchron den Abgesang auf eine sprachlose Zukunft singen: Jürgen Becker ließ im studio theater die Musik sprechen.

Was haben das Steigerlied, die Marseillaise, die Internationale, die dunkle Seite des Mondes, Hossa und Vicky Leandros miteinander zu tun? Alles und nichts. Als Soundtrack des Lebens offenbaren sie so einiges. Freud und Leid, Kriege und Krisen, Aufbau und Niedergang, Hoffnung und Verzweiflung sind die DJs. Eben „Geschichte in Scheiben“ und die ganz persönliche Disco. Abgemischt von Jürgen Becker. Gewürzt mit zünftigen sozialpolitischen Analysen. Ob am Ende dann doch nur das Kölsch übrigbleibt, wird sich zeigen. Ein schöner Abend wirkte am Freitag im studio theater auf jeden Fall längerfristig nach.

Er stand am Hebel und legte den Soundtrack der Geschichte auf.

Das verspricht Jürgen Becker schließlich traditionell. So hieß es auch in Bergkamen: „Dann wollen wir uns mal einen schönen Abend machen“. Er saß dabei nicht am Hebel, sondern stand. Was wie ein riesiger Glücksspielautomat anmutete, war straff durchgeplant. Von Mozart an der Babybauchdecke ging es zu den ersten frühkindlichen Albträumen dank „morgen früh, so Gott will“ über. Beim Steigerlied und dem Ausflug in die Heimat, „in die du hineingevögelt wirst“, und wulachen jenseits der work life balance konnten alle noch mitsingen. Schließlich ist Musik gemeinschaftsstiftend – egal ob mit Pink Floyd auf dem Mister Hit-Plattenspieler oder lauthals live mit der Marseillaise oder Internationalen aus Tausend Hälsen.

Mit der Flöte als Tonangeber.

Sprachlos blieb es dann an vielen Stellen der Geschichte. Ohne deutsche Nationalhymne und unfreiwillig komischen Ersatz-Einspieler der Eingeborenen von Trizonesien. Mit Blueskonzerten, die Mauern einreißen, und Wiedervereinten, die dummdösige Schlager grölen. Ohne Jimmy Hendrix hätte die Frau an sich nie ihr eigenes Konto eröffnen und Hosen anziehen können. Während die Sozialdemokratie unter altruistischen Saufliedern in Warschau auf die Knie geht und der Sexismus in den 70ern „herrliche Zeiten“ erlebt, machen Ton Steine Scherben kaputt, was uns kaputt macht.

Mit der Lufttrompete in Aktion.

Wie es Jürgen Becker in all dem gelingt, den aktuellen politischen Bezug herzustellen, ist ein Genuss. Der Kölner an sich hat eben immer die richtige Antwort, auch auf aktuelle rechtsgerichtete Vertreibungskonzepte. „Mir sin alle Lück wie ich un du“: „Lass mer fiere, nicht deportiere“! Und: „Freiheit gewinnen wir nur, wenn wir wissen, was uns eint!“, schlussfolgert Becker. Warum können Israelis und Palästinenser nicht miteinander auskommen, wenn es Deutsche und Israelis nach 6 Mio. von Deutschen vernichteten Juden können?

Die E-Gitarre durfte nicht fehlen.

Nahtlos geht es über zur Erfindung der E-Gitarre und viel Wissenswertem hinter Jazz, Gibson-Gitarre und Stratocaster. Das alles endet mit einer ganzen Generation, die zu Santana auf dem Flokati gezeugt wird und schunkelnd protestiert, während woanders Häuser brennen. Aquarius weckt bei den meisten heute statt sexueller Fantasien nur Gelüste nach unerreichbaren Handwerkern für die Wärmepumpe. Für andere ist der Soundtrack der Autobahn sinnlicher als born to be vernünftig der Fridays for Future. Wieder ist die Lage ernst und es gibt keinen Soundtrack für den elementaren Umbruch. Wir müssten zurück auf das Wirtschaftsniveau von 1978, um den Klimawandel aufzuhalten. Ging es uns mit „Daddy Cool“ nicht auch ziemlich gut?

Und nu? Zum Abschluss gab es Zugaben, ein Kölsch – und ein Abgang mit dem tiefergelegten E-Sportwagen vor dem Bühnenausgang.

Vicky Leandros als Sappho der Neuzeit hat aufgehört. „Sie haben heute ihre Gesangskarriere begonnen!“, versicherte Jürgen Becker, nachdem die Bergkamener fast alles textsicher mitgesungen hatten. Sie erklatschten, erjubelten und erpfiffen sich zig Zugaben und die abschließende Erkenntnis, dass „die Illusion, auf Kosten anderer zu leben, zuende geht“. Und ein letztes selbstgesungenes Lied: Ich brauche keine Millionen, nur Musik, Musik, Musik“. Und natürlich ein echtes Kölsch. Mal abgesehen von einem wirklich fantastisch schönen Abend.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*