Rosen legt sie auf den Gedenkstein und hält kurz mit gefalteten Händen inne. Einen anderen Ort als das Mahnmal für das Grubenunglück gibt es nicht, um ihres Vaters zu gedenken. Vor 70 Jahren ist er von seiner Schicht auf der Zeche Grimberg 3/4 nicht mehr zurückgekehrt. Er ist einer von 405 Toten, die jene gewaltige Explosion unter Tage nicht überlebten. Für die meisten wurde der Schacht in 930 Metern Tiefe zum Grab.
„Das war hart für uns“, erinnert sich Ursula Hadrych. „Wir Kinder sind damals Vollwaise geworden, unsere Mutter ist bereits früh gestorben, unsere Stiefmutter war nun ganz allein mit uns.“ Jetzt lässt die 77-Jährige den Tränen freien Lauf. „Wir haben es nur geschafft, weil wir alle mit angepackt haben und Selbstversorger wurden.“ Besonders zu schaffen gemacht hat der Tod des Vaters dem jüngeren Bruder. Er wurde auch Bergmann, auf der gleichen Zeche. „Unsere Stiefmutter hat alles getan um ihn davon abzuhalten – erfolglos“, erzählt Ursula Hadrych. „Er wollte das schon als kleiner Knirps, um den Vater aus seinem Grab herausholen, das hat er uns damals versprochen.“ Der Vater ist bis heute unter Grimberg 3/4 begraben. Vielleicht fällt es Ursula Hadrych deshalb nicht leicht, jedes Jahr zur Gedenkfeier für das Grubenunglück zu kommen. Zum 70. Jahrestag wollte sie aber unbedingt dabei sein.
Kurz nach 12 Uhr erschütterte eine gewaltige Explosion am 20. Februar 1946 die Stadt. Über Tage stürzte sogar eine Schachthalle durch die Gewalt der Detonation ein. Die Ursachen sind bis heute umstritten – Schlagwetter- oder Kohlenstaubexplosion. Fest steht: Sie löste das bis heute größte Grubenunglück des Landes aus. Ein Trauma nicht nur für die Stadt und für Region. Drei Tage lang kämpften die Retter um das Leben der in der Tiefe begrabenen Männer. Nur 64 konnten gerettet werden. Fast jede Familie in Bergkamen hatte einen Toten zu beklagen.
Dem Erbe auch weiterhin verpflichtet
„Wir sind dem Erbe, das aus diesem Unglück hervorging, auch weiterhin verpflichtet“, betonte Klaus-Jürgen Reineward, Betriebsinspektor der Zeche Auguste Victoria. „Das Unglück hat das Leben in der Bergkamen verändert – es war ein traumatisches Erlebnis“, so Bürgermeister Roland Schäfer in seiner Ansprache. Was damals in der immer noch vom Krieg zerstörten Stadt „wie eine Welle des Erschreckens“ in ganz Deutschland ausstrahlte, „ist immer noch in der Erinnerung vieler Menschen“. Was damals passiert sei, sei auch Mahnung gewesen – dafür, „dass wir mitten im Leben vom Tode umfangen sind“, aber auch für Arbeitssicherheit und Unfallverhütung.
„Nichts war mehr so, wie es einmal war“, so Mario Unger von der IG BCE mit Blick auf die Kränze, die sich inzwischen dicht vor der brennenden Flamme des Mahnmals drängten. „Hoffnungen und Zukunftspläne wurden zunichte gemacht.“ Die Maßnahmen für Arbeitssicherheit jedoch wurden verbessert. Inzwischen gibt es nur noch ein Bergwerk im Ruhrgebiet. Die Überlebenden sind alle verstorben. Auch deshalb ist es für Ursula Hadrych und viele der trauernden Hinterbliebenen wichtig, „dass wir uns daran erinnern und davon erzählen“.
„Wenn der Bergmann in die Grube fährt, weiß er nicht, ob er heil wiederkehrt“: Diese Zeilen aus dem Gedicht von Heinrich Kämpchen waren an diesem 70. Gedenktag wie eine Mahnung, die weiterhin von dringlicher Aktualität ist. Denn: Grubenunglücke gibt es auch sieben Jahrzehnte nach diesem Trauma noch immer überall der Welt. Daran erinnerten auch die Pfarrer beider Kirchen. Beim Bergmannslied hielten sich alle an den Händen – Politiker wie Knappen, ehemalige Bergleute, Gewerkschafter und Hinterbliebene. Fast war nicht genug Platz um das Mahnmal auf dem Waldfriedhof in Weddinghofen, um alle Menschen bei dieser Trauerfeier aufzunehmen.