Fünf Bergkamener jüdischen Glaubens entkamen mit viel Glück der Mordmaschinerie der Nazis, dem Holocaust. Sie konnten rechtzeitig über Zwischenstationen ins sichere Ausland flüchten.
An ihr Schicksal, aber noch viel mehr der millionenfachen Ermordung von Juden, Sinti, Roma und anderer Menschen in den Vernichtungslagern gedachten die kath. und ev. Kirchengemeinden in einer Gedenkfeier am Samstag, dem 75. Jahrestag der sogenannten „Reichspogromnacht“ auf dem Platz von Tasucu.
Bürgermeister Roland Schäfer betonte, dass die Stadt Bergkamen ganz bewusst eine besondere Erinnerungskultur Pflege. Früh seien Straßen der Stadt und auch eine Grundschule nach Widerstandkämpfern benannt worden. Zu dieser Tradition gehörten auch die Kranzniederlegungen am 27. Januar eines jeden Jahres, dem bundesweiten Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am Oberlinhaus an der Lentstraße, dem ehemaligen Konzentrationslager Schönhausen. Damit solle ein Beitrag gegen das immer noch vorhandene faschistische Gedankengut in reinem kleinen Teil der Bevölkerung und für mehr Toleranz und ein friedliches Zusammenleben geleistet werden.
Stadtarchivar Martin Litzinger rief in seinem Redebeitrag bei dieser Gedenkveranstaltung das Schicksal der fünf Bergkamener, der Kaufmannsfamilie Hertz in Bergkamen und des Friseurs und Geschäftsmanns Max Herrmann in Overberge in Erinnerung. Dieser Beitrag wird hier im Wortlaut dokumentiert:
Als 1933 die unselige nationalsozialistische Herrschaft über Deutschland begann, da lebten im Raum Bergkamen fünf Menschen jüdischen Glaubens. Es war die vierköpfige Kaufmannsfamilie Hertz in Bergkamen und der Friseur und Geschäftsmann Max Herrmann in Overberge.
Kaufmannsfamilie war beliebt und hoch geachtet
Lassen Sie mich an dieser Stelle in wenigen Zügen das Schicksal dieser Menschen nachzeichnen, denen nur durch an Wunder grenzende glückliche Fügungen des Schicksals unvorstellbares Leid und der Tod im Holocaust erspart geblieben sind.
Der aus Ungarn gebürtige Kaufmann Hermann Hertz (*1879) und seine deutsche Ehefrau Amalia geb. Blumenthal (*1884) aus Castrop waren schon lange vor dem 1. Weltkrieg nach Bergkamen gekommen, wo 1911 und 1922 ihre beiden Töchter Grete und Lieselotte geboren wurden, die ihrerseits auch die Schule in ihrem Geburts- und Heimatort besuchten.
Die Familie war in der Gemeinde allgemein sehr beliebt und geachtet. Die Eheleute Hertz führten ein eigenes Bekleidungs- und Textilwarengeschäft an der heutigen Präsidentenstraße und taten im Rahmen ihrer geschäftlichen Möglichkeiten besonders bedürftigen Familien in der Gemeinde viel Gutes.
Wertschätzung schützte nicht vor den Nazis
Die allgemeine Wertschätzung in der Bevölkerung schützte die Familie Hertz allerdings auf Dauer nicht vor zunehmenden Schwierigkeiten, die ihnen Behörden und örtliche NSDAP-Parteifunktionäre bereiteten, auch wenn Bergkamen sicherlich alles andere als eine „Hochburg“ des Nationalsozialismus war.
Bereits im Juni 1935 wurde der Familie die erst 1921 gewährte preußische bzw. deutsche Staatsbürgerschaft schon wieder entzogen.
Als Hermann Hertz 1936 einen längeren Verwandtenbesuch in Ungarn plante, da drohte man ihm unmissverständlich an, seine anschließende Wiedereinreise nach Deutschland zu untersagen. Hertz trat diese Reise dann auch nicht an, weil er das Risiko einer Trennung von seiner Familie nicht eingehen wollte.
Letztlich halft nur die Flucht ins Ausland
Ende 1937/Anfang 1938 sah sich die Familie Hertz dann schließlich auf zunehmenden Druck von NSDAP und Behörden gezwungen, ihr Geschäft in Bergkamen aufzugeben und deutlich unter dem tatsächlichen Wert zu verkaufen.
Anfang März 1938 schließlich verließ die Familie Hertz Bergkamen und zog nach Essen. Ob sie bereits damals den Entschluss fasste, Deutschland auf längere Sicht dauerhaft zu verlassen, ist unbekannt.
Die ältere Tochter Grete Hertz jedenfalls, die seit 1936 mit dem Kaufmann Heinz Katz in Mülheim an der Ruhr verheiratet war, wanderte bereits 1938 gemeinsam mit ihrem Ehemann in die USA aus.
Buchstäblich „in letzter Sekunde“ folgten die Eheleute Hertz und ihre jüngere Tochter Lieselotte dem Beispiel ihrer älteren Tochter und Schwester und konnten dadurch letztlich auch ihr Leben retten.
Ende November 1940 nämlich emigrierten sie über Kuba nach Mexiko-City und gelangten schließlich von dort aus in die USA, wo sie eine neue Heimat fanden.
Hermanns blieben am 9. 11. 1938 unbehelligt
Einen ganz anderen Weg nahm ab 1938 das Leben von Max Herrmann (* Bochum 1899) in Overberge. Er lebte seit 1926 in der Gemeinde und unterhielt hier an der heutigen Werner Straße ein Damen- und Herren-Friseurgeschäft, in dem er zusätzlich Tabakwaren anbot und verkaufte. 1931 heiratete er die Overbergerin Alma Wendel (* 1910), von Beruf Schneiderin, die fortan als Inhaberin des Geschäftsbetriebes fungierte.
Während der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 blieben die Eheleute Herrmann und ihr Geschäft wider Erwarten gänzlich unbehelligt, doch erhielten sie dann bereits am 11. November vom Amtsbürgermeister in Pelkum die Anweisung, ihr Geschäft vorübergehend zu schließen, um dadurch – so die höchst zynische Begründung – „Störungen“ der öffentlichen Ordnung „zu vermeiden“.
Nach sechs Wochen aus demKZ Sachsenhausen entlassen
Nur einen Tag später wurde Max Herrmann ohn htlichen Grund in so genannte „Schutzhaft“ genommen, zunächst in die Gestapo-Außenstelle Hamm eingeliefert und von dort aus wenig später in das KZ Sachsenhausen/Oranienburg nördlich von Berlin gebracht.
Da Max Herrmann während des 1. Weltkrieges noch in ganz jungen Jahren als deutscher Soldat und Frontkämpfer Militärdienst geleistet hatte und mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet worden war, entließ man ihn jedoch nach sechs Wochen nach massiver persönlicher Einschüchterung wieder aus der Haft.
Herrmann, der wie alle männlichen Juden, seit 1935 durch Gesetz verpflichtet war, offiziell den Zusatz-Vornamen „Israel“ (für Frauen „Sarah“) zu tragen, begann spätestens während seiner Haftzeit zu ahnen, dass ihm auf längere Sicht erhebliche Gefahr drohte. Anfang 1939 gaben er und seine Frau deshalb Geschäft und Betrieb in Overberge auf.
Auch die Großstadt bot keinen Schutz
Anfang Mai 1939 zogen die Eheleute nach Köln, wo Max Herrmann sich in der Anonymität einer Großstadt – zumindest vorläufig – zweifellos noch etwas sicherer fühlen konnte als in einer kleinen Landgemeinde wie Overberge es war.
Als es aber im Laufe des Jahres 1942 auch im Raum Köln zu immer mehr systematischen Deportationen von Menschen jüdischen Glaubens kam, tauchte Max Herrmann noch eben rechtzeitig und im letzten Moment unter.
Bis zum Untergang des Nationalsozialismus im Mai 1945 konnte er sich in wechselnden Verstecken, unterstützt und verborgen von Verwandten seiner Frau, weiterer Verfolgung entziehen und letztlich überleben.
Deutschland war ihm fremd geworden
Nach dem Ende des Krieges kehrte Herrmann nach vorübergehendem Dienst bei den amerikanischen Truppen und den britischen Besatzungsbehörden in seinen Heimatort zurück, wo seine Frau inzwischen das frühere Friseurgeschäft wieder eröffnet hatte.
Ende 1951 allerdings zog Max Herrmann mit seiner Frau und seinen 1942 und 1947 geborenen Söhnen Walter und Günter endgültig aus Overberge fort, um in die USA auszuwandern und sich dort eine neue Existenz aufzubauen.
Deutschland war ihm fremd geworden, Heimat hat es ihm wohl nicht mehr sein können.