HALT! Was denken Sie, wenn sie diesen Begriff lesen? Denken Sie: Stopp! Nicht zu nah! Abstand halten? Oder eher: Wer gibt mir Halt und Orientierung? Iris Wolf, Fotografin und Künstlerin aus Dortmund, durchlebte wie viele Kulturschaffende im Laufe der Pandemie eine Achterbahn der Gefühle – ausgelöst von der Sehnsucht nach Nähe, Unbeschwertheit, Austausch. Und immer wieder stellte sie sich die Frage: Wie gehen andere Künstler*innen mit der Situation um?
HALT – eine Ausstellung, acht Positionen
Also hat die Fotografin und Ausstellungsmacherin deutschlandweit recherchiert und bei anderen Künstler*innen nachgefragt: Wie lebt und arbeitet ihr in Zeiten der Pandemie? Iris Wolf kuratierte das Projekt HALT. Die Stadtgalerie Bergkamen stieg als Partnerin mit ins Boot. „Das Ausstellungskonzept HALT vereint acht Künstler*innen-Positionen. Jede*r der beteiligten Fotokünstler*innen eröffnet eine außergewöhnliche Perspektive auf diese besondere Zeit“, sagt Simone Schmidt-Apel, Kulturreferentin der Stadt Bergkamen. Die Ergebnisse sind ab 16. Mai 2021 online auf der Website der Stadtgalerie Bergkamen unter galerie-sohle1.de zu sehen und zu hören.
Gleichzeitig werden Elemente der Ausstellung auch im Stadtbild Bergkamens sichtbar – an der Front der Galerie, in Schaufenstern von vorübergehend geschlossenen Geschäften oder Leerständen. HALT bietet außerdem partizipative Elemente: Die Betrachter*innen sind eingeladen, ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen im Hinblick auf das Leben während der Pandemie einfließen zu lassen.
Die Künstler*innen
Die Berlinerin Katrin Streicher, in nicht pandemischen Zeiten als freie Fotografin für Magazine im In- und Ausland tätig, dokumentierte das Leben ihrer vierköpfigen Familie unter Corona- und Lockdown-Bedingungen. Ihr Beitrag beleuchtet in der Ausstellung den Aspekt „zusammenHALTen“. Sie verlagert eine zentrale Fragestellung ihrer fotografischen Arbeit – die Wechselwirkung zwischen Menschen, Orten und Identitäten – ins Persönliche. Ihre Bilder erzählen von kostbaren Momenten der Innigkeit, aber auch von Ängsten und Unsicherheiten. Arbeiten von Katrin Streicher waren bereits in Einzel- und Gruppenausstellungen in Europa, Asien und Afrika zu sehen. So nahe wie im Rahmen der Ausstellung in Bergkamen hat sie ihre Rezipienten bisher nicht an sich selbst herangelassen. [katrinstreicher.com]
Die Fotografin Debora Ruppert aus Berlin porträtiert seit vielen Jahren Menschen ohne Obdach. Während der Pandemie traf sie Männer und Frauen, die auf den Straßen Berlins leben: einfach ’mal „anHALTen“ und den ganz persönlichen Geschichten dieser Menschen zuhören. Gemeinsam mit der Filmemacherin Rebecca Rütten besuchte sie Einrichtungen der Wohnungs- und Obdachlosenhilfe und sprach auch mit denjenigen, die unter COVID-19-Bedingungen diese Angebote aufrechterhalten. In ihrem 15-minütigen Filmbeitrag „Obdachlos in Zeiten von COVID-19 – Wenn Du nicht zuhause bleiben kannst“ dokumentieren die beiden Frauen eindrucksvoll, was es bedeutet, wenn es kaum noch Flaschen zum Sammeln gibt und die Essensausgaben geschlossen sind. Bereits seit 2009 porträtiert die Künstlerin Debora Ruppert Menschen, die auf der Straße leben, und schenkt ihnen im Anschluss das mit viel Wertschätzung und Einfühlungsvermögen entstandene Bild. [deboraruppert.com]
Der gebürtige Schleswig-Holsteiner Fred Hüning lebt in Berlin. Sein Beitrag unter der Headline „inneHALTen“ basiert auf seinem Frühlingstagebuch für die Zeitung TAZ. Seine Bilder und Geschichten erzählen mit einem Augenzwinkern, was ihm während diverser Landpartien durch den Kopf ging: Küssen und dabei lachen! Lachen und dabei küssen! Wie gesund ist das denn? Da muss unter Lockdown-Bedingungen auch schon mal der Inhalt der Obstschale herhalten und kurzerhand werden die Banane rot und der Apfel gelb. Das so entstandene Pop-Art-Werk trägt den Titel „Rote Banane grüßt Blauen Reiter“. Neben Ausstellungen in Deutschland waren die Arbeiten von Fred Hüning bereits in Großbritannien, Frankreich, Rumänien, Polen, China und den USA zu sehen. [fredhuening.de]
Mit einer Fotodokumentation – in der Ausstellung unter dem Titel „festHALTen“ zu sehen –wirft Tobias Wuntke, Fotograf aus dem Schwabenland, den Blick bewusst auf das, was eigentlich hinter verschlossenen Türen geschieht: Er fotografierte den Alltag auf der COVID-Intensivstation des Universitätsklinikums Tübingen – seine präzise und klare Bildsprache vermittelt auf eindrückliche Weise Anstrengung, Leid, Technik, Engagement. Tobias Wuntke sagt: „Obwohl das Thema COVID-19 über sämtliche Medien sehr präsent ist, fehlt uns die Vorstellungskraft davon, was ein schwerer Verlauf der Krankheit für Patient*innen, Ärzt*innen und vor allem Pflegende bedeutet. Die Idee zu diesem Fotoprojekt kam aus dem Pflegeteam selbst, eine der Intensivpflegerinnen äußerte den Wunsch, der Öffentlichkeit die Geschehnisse auf der Intensivstation zugänglich zu machen.“ [tobiaswuntke.de]
Marzena Skubatz zeigt mit dem Beitrag „HALTlos“ Teile ihrer Arbeit „Cocoon“, die während des Lockdowns im Jahr 2020 entstanden ist. Die lyrischen, zum Teil surrealen Motive zeigen einen Menschen – mit sich allein: Fast hört man die Stille, den Wimpernschlag, das Rascheln der Bettdecke, das dumpfe Rauschen des eigenen Blutes beim Untertauchen in der Badewanne. Marzena Skubatz machte ihr Fotografie-Diplom 2010 in Dortmund, lebt und arbeitet mittlerweile in Berlin und Island. Die Arbeiten waren bereits in einer Gruppenausstellung unter dem Titel „The Journal – Documenting COVID-19“ im Herbst 2020 im Benaki Museum Athen und im Washington Post Magazin zu sehen. [marzenaskubatz.com]
Marlena Waldthausen (Fotos) und Miriam Dahlinger (Texte) porträtierten für die Serie „Corona Blues“ der Wochenzeitung DIE ZEIT ältere Menschen während des Lockdowns. Eine Auswahl dieser Fotos und Geschichten präsentieren sie nun unter dem Titel „entHALTsam“ in der Ausstellung. Der Blick der Betrachter wird von außen durch die Fensterscheibe ins Innere gelenkt. Spiegelungen und Schattierungen lassen das Außen mit den Gesichtern verschwimmen. Eindrücklich und berührend berichten die Porträtierten, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen: „Abends geben wir uns ein Küsschen. Morgens freuen wir uns, dass wir noch da sind.“ [marlena-waldthausen.de]
Iris Wolf führt mit einem Selbstporträt und einem Audio in ihren Beitrag „verHALTen“ ein: „Ich vermisse die Unbeschwertheit, ich bewundere mutige Menschen, ich sehne mich nach Schönheit …“ Ihre Arbeit ist ein Gedankentagebuch, ein Blick auf die Gesellschaft während der Pandemie. Ihre Fotografien und Typografien spielen mit den Widersprüchen, die sich durch die Ausnahmesituation auftun, sie verbildlichen einen inneren Diskurs zwischen dem Wunsch nach heiler Welt und dem Drang, etwas bewegen zu müssen. Iris Wolf: „Die Pandemie offenbart Schwachstellen der Gesellschaft, macht sie schmerzlich erlebbar: Nationalismus, Rassismus, Klimakrise, Bildungsungleichheiten, Antifeminismus …“ All‘ diese Themen schwirren herum und formieren sich zu Motiven: zur Fotografie des eigenen Achselhaars, zum ästhetisch perfekt in Szene gesetzten Blümchens in einer Vase oder zum melancholisch anmutenden Schneeengel im menschenleeren Feld. [iriswolf-fotografie.de]
Schrill, bunt – un poco loco. Das war die Überlebensstrategie der Foto-Künstlerin Claudia Wiens, die den strengen siebenwöchigen Lockdown im Frühjahr 2020 in Sevilla erlebt hat. „unterHALTen“ basiert auf einer Corona-Chronik der besonderen Art. Täglich zur gleichen Zeit baute die Künstlerin auf der Dachterrasse des Hauses, das sie nicht verlassen durfte, ein immer wieder neues buntes Setting auf. Da wird die Veranda zum Surferparadies, zur Oase in der Wüste oder zur Einflugschneise für überdimensionale Bienen. „Die Bilder feiern keineswegs das Eingesperrtsein, die Situation hat mich bis ins tiefste Innere erschüttert”, berichtet die Künstlerin. Um ihre Verzweiflung zu überwinden, habe sie all ihre kreativen Ressourcen aktiviert. Manchmal schaue sie sich diese Bilder an und fühle sich an den Film „Einer flog übers Kuckucksnest“ erinnert. [claudiawiens.com]
Ausblick
Die Fotoausstellung HALT ist als digitales Format auf der Website der Galerie Sohle 1 zu erleben – erweitert durch Audio- und Videoelemente. Am Ende werden die Betrachter*innen anhand von Leitfragen aufgefordert, ihr aktuelles Befinden zu hinterfragen und einige Sätze oder Audios an die Adresse enthalten@web.de zu senden. Die Zuschauer*innen-Beiträge fließen dann nach und nach in die Ausstellung ein.
Ansprechpartnerin / Kontakt
Iris Wolf
E-Mail: info@iriswolf-fotografie.de
Telefon: 0172_7 627 509
www.iriswolf-fotografie.de