Wenn der Wind sich dreht: Kevin Kühnert hadert in Oberaden mit Antworten auf die Krisen
„Der Wind hat sich gedreht“, bemerkte Kevin Kühnert gleich zu Beginn der traditionellen Maikundgebung in Oberaden. Wo früher kämpferische Worte die Römerberghalle füllten, war jetzt vor allem Ratlosigkeit in der Luft. Und ein Hauch von Verzweiflung. Denn ein Rezept für das, was sich gerade gesellschaftlich in Deutschland und wirtschaftlich wie politisch weltweit abspielt, hatte auch der Generalsekretär der SPD nicht, als er alle Wahlkampfthemen artig abarbeitete.
Es ist vor allem die Angst vor dem, was sich dort nächstens an den Wahlurnen abspielen könnte. Die AfD und ihre Parolen, ein Rechtsruck in der Gesellschaft, stetig schrumpfende Umfragewerte für die bekannten Parteien, Krisen allerorten: Die Demokratie scheint in Gefahr. Die Menschen haben Angst um ihren Wohlstand, den Zusammenbruch der bewährten Sicherheit. „Wir müssen raus aus der Komfortzone, unsere Mitmenschen damit konfrontieren: Demokratie beginnt im Alltag und sie muss wie ein Instrument gespielt werden!“, appellierte Kühnert, der ernsthaft um die Demokratie, eine Machtübernahme der Rechten und Radikalen fürchtet. „Man spielt nicht mit Rechtsradikalen und geht keine Bündnisse mit ihnen ein!“
Politisch spielte Kühnert die bekannte Klaviatur. Das Streikrecht werde dieser Tage angegriffen. Nicht mit der SPD. Viel wichtiger sei es, einen Umgang mit den wirtschaftlichen Herausforderungen zu finden, die Technologieführerschaft bei klimaneutraler Produktion zu erreichen. Er fordert Investitionen in Infrastruktur, günstigen Strom, Hilfen beim energetischen Umbau der Unternehmen. Rufe nach Überstundenfinanzierung der Krise aus der FDP sei geradezu grotesk bei 1,5 Mio. unvergüteten Überstunden gerade der Geringverdiener. Die aktuell wieder heftig in die Diskussion geratene Rente ist für ihn „ein Rechtsanspruch, keine charitative Leistung – da wird die Axt an Lebensleistungen angelegt“.
Längst an der Knorpelmasse der Gesellschaft angekommen
Die endlose Bürgergelddiskussion angesichts von gerade einmal 14.000 Vollverweigerern bundesweit und Haushaltslöchern von 20-30 Mrd. Euro sowie 2 Mio. Wohngeldberechtigten, die bombastisch gestiegene Wohnkosten nicht mehr schaffen: Es gebe genug Baustellen in anderen Feldern inklusive schäbiger Bedingungen, bei denen sich die Mindestlohnkommission ebenfalls nicht mit Ruhm bekleckert habe, zeigte sich Kevin Kühnert selbstkritisch. „Wir sind längst an der Knorpelmasse der Gesellschaft angekommen: Die Leute wenden sich ab, wenn die Politik nur noch über Platzbenennungen abstimmt.“
75 Jahre ist der 1. Mai in Oberaden jetzt alt – ein Corona-Aussetzer 2021 inklusive. Er ist älter als das Grundgesetzt. Wohlstand, Frieden und Freiheit: Das sei das Erbe der Gründergeneration, so Volker Wagner von der IG BCE Oberaden. „Für dieses Erbe müssen wir zusammenstehen“, auch wenn die Zeiten schwierig seien mit Kriegen und einer lodernden Zündschnur der Rechtspopulisten. Solidarität, Demokratie und Zusammenhalt: Das waren seine Stichworte, die alle anderen Redner aufgriffen. Bergkamens Bürgermeister Bernd Schäfer sprach den Wandel an, der überall spürbar sei und den Menschen Angst mache: „Solidarität und Gerechtigkeit sind jetzt dringender als je zuvor.“ Sein Appell Richtung Berlin mit 35 Jahren Sparkassenerfahrung: Steuerschlupflöcher kitten, den Mittellosen nicht noch mehr wegnehmen, investieren.
Genug innere Probleme identifizierte auch Landrat Mario Löhr und forderte dringend dazu auf, bei der Europawahl für die Demokratie zu stimmen. Die Kamener Bürgermeisterin Elke Kappen erinnerte die Berliner Ampel an das, was der Bergbau und die Gewerkschaften vorgemacht hätten: „Bei unterschiedlichen Interessen Kompromisse finden und die auch den Leuten vermitteln und dafür einstehen, sie verteidigen!“
Eine mächtige Portion Ruhrpott-Tradition nahm Kühnert zusätzlich mit nach Berlin: Das Steigerlied, den Schnaps, die Erbsensuppe, das Kundgebungsplakat inklusive Bergbaudevotionalie, ein Schaulaufen der lokalen Parteien an ihren Ständen und sehr intensive Eindrücke aus dem „Ruhrical“, das die besten musikalischen Hits der Region präsentiert. Und viele Sorgen und Ängste von Menschen, die Bergbau multikulturell ohne Unterschiede gelebt haben. Dafür aber exzessive Selfie-Sessions mit begeisterten jungen Demokratien aus allen Organisationen und Verbänden, für die er sich geduldig Zeit nahm.