90 Jahre Lippeverband: Sesekeumbau ein erfolgreiches Großprojekt
Vor 90 Jahren, im Dezember 1925, wurde das Lippeverband-Gesetz verabschiedet! 90 Jahre Wasserwirtschaft an der Lippe und ihren Zuflüssen – da gibt es viel, auf das es sich zurückzublicken lohnt: Eine der größten Leistungen war die Renaturierung der Seseke vom einstigen Hinterhof zum neuen Vorgarten, nachdem sie zuvor noch technisch ausgebaut und zur Köttelbecke degradiert wurde.
Im Rahmen der Jahresversammlung des Lippeverbandes in Kamen blickte Dr. Jochen Stemplewski, seit nunmehr 24 Jahren Vorstandsvorsitzender des Lippeverbandes, nicht nur auf den Seseke-Umbau zurück. Vor allem der Ausbau der Kläranlagen im Lippegebiet hat sich bezahlt gemacht – die Wasserqualität in den Gewässern hat sich stark verbessert, die Artenvielfalt kann sich aktuell bestens sehen lassen. Doch die Zukunft bringt Herausforderungen mit sich: Kritisch sieht der Lippeverband Forderungen nach der sogenannten „vierten Reinigungsstufe“. Diese, das haben eigene Pilotprojekte des Lippeverbandes gezeigt, ist noch lange nicht ausgereift.
„90 Jahre Wasserwirtschaftsgeschichte an der Lippe – das ist eine durchaus spannende Geschichte: wie ein über lange Zeit von Industrie, Bergbau und Kommunen stark in Anspruch genommenes Flussgebiet in den letzten beiden Jahrzehnten zu großen Teilen wieder sauber und ökologisch intakt geworden ist. Und wie jetzt auch die allerletzten offenen Schmutzwasserläufe Stück für Stück wieder umgestaltet werden“, sagte Dr. Jochen Stemplewski zu Beginn seines Vorstandsberichts bei der Jahresversammlung des Lippeverbandes in Kamen.
„Und hier an der Seseke, in der Stadt Kamen, hat sich ein wesentlicher Teil dieser Geschichte abgespielt, deswegen ist das auch ein besonderer Ort.“
Vor über 100 Jahren führten die Abwassermissstände in der Region zunächst zur Gründung der Sesekegenossenschaft 1913. Doch griff die Zuständigkeit der Sesekegenossenschaft räumlich zu kurz: Es ging ja nur um einen kleinen Ausschnitt – eben das Einzugsgebiet des Lippe-Nebenflusses Seseke. Für die Lippe selbst und ihr weiteres Einzugsgebiet fehlte ein umfassendes wasserwirtschaftliches Konzept für die Lösung der Missstände. Verzögert durch den ersten Weltkrieg wurde im Januar 1926 als Folgeorganisation der Sesekegenossenschaft der Lippeverband gegründet.
Kamen und Bergkamen haben wieder einen schönen Stadtfluss
Heute kann von einer Abwassermisere kaum noch die Rede sein. Kamen etwa hat mit der Seseke wieder einen schönen Stadtfluss, genauso wie Bergkamen, Bönen und Lünen. „Vor mehr als 25 Jahren haben wir als Lippeverband mit dem Umbau des Gewässersystems begonnen, dem sogenannten Seseke-Programm. Wir haben dabei seit den 90er-Jahren bis heute in dem 315 km² großen Einzugsgebiet eine komplett neue Flusslandschaft geschaffen“, sagt Stemplewski.
Grundlage dafür ist ein modernes Abwassersystem. 500 Millionen Euro hat der Lippeverband investiert, in vier Kläranlagen, 73 Kilometer Abwasserkanäle und 75 Kilometer neue naturnahe Gewässerläufe. „Der Seseke-Umbau ist ein erfolgreiches öffentliches Großprojekt, denn wir sind über 25 Jahre in der Spur, im Kostenrahmen geblieben. Von 1992 umgerechnet veranschlagten 520 Millionen Euro haben wir am Ende 505 Millionen Euro investiert“, sagt Stemplewski und nennt zwei Erfolgsfaktoren für das gute Gelingen: Durch konsequentes Projektmanagement und Controlling hat der Lippeverband erfolgreich gegen zusätzliche Kostenbelastungen angearbeitet.
Der Erfolg des Seseke-Programms kann sich sehen lassen: Der Lippeverband konnte im Sesekesystem bei den routinemäßigen Gewässermonitorings bislang rund 350 Tierarten nachweisen, Fische, Muscheln, Schnecken, Insekten, Krebstiere und mehr. Vor dem Umbau waren diese Gewässer weitgehend unbesiedelt, biologisch tot, verödet, wie die Fachleute damals sagten. „Wir haben die Natur zurückgeholt an die Bäche und Flüsse. Wir schaffen lebendige Gewässer und neue Biodiversität, die ansonsten weltweit zurückgeht“, erklärt Stemplewski.
Erfreuliches gibt es auch aus dem Bereich des Flusses Lippe zu vermelden. Dass es der Lippe heute insgesamt wieder gut geht, ist besonders den erheblichen Investitionen des Lippeverbandes in den Ausbau von Kläranlagen zu verdanken. „Heute reinigen wir das Abwasser von 1,4 Millionen, mit Blick auf die Einleitungen der Industrie von 2,3 Millionen Einwohnerwerten.“ Als der Lippeverband sich in der Gründungsphase befand, waren im heutigen Verbandsgebiet lediglich rund 430.000 Menschen an die Kanalisation angeschlossen. Es gab damals nur eine Handvoll Kläranlagen und diese waren oft nicht wirkungsvoll genug.
Ökologischer Erfolg nach Ausbau von Kläranlagen
Heute betreibt der Lippeverband 50 Kläranlagen im Verbandsgebiet. Der Erfolg stellte sich ein: In den späten 90er-Jahren erreichte die Wasserqualität der Lippe stabil den Bereich „gut“. Nur der Bereich unterhalb der Seseke musste noch bis zur Renaturierung des Sesekesystems warten.
Auch der ökologische Erfolg des Kläranlagenprogramms war groß: Mit über 400 Arten an wirbellosen Wassertieren – also Insekten, Muscheln, Schnecken, Kleinkrebsen und viele andere – hat sich die Biodiversität in der Lippe in den letzten 20 Jahren mehr als verdreifacht. Und rund 60 Arten davon stehen auf einer Roten Liste, sind in den Flüssen Deutschlands also selten geworden oder sogar vom Aussterben bedroht – bei uns aber wieder anzutreffen!
Forderung nach der vierten Reinigungsstufe ist „kritisch“
Kritisch sieht der Lippeverband jedoch die aktuellen Forderungen, in den Kläranlagenausbau wieder viel Geld zu investieren, diesmal mit dem Ziel der Eliminierung der sogenannten Spurenstoffe aus Medikamenten, Hormonen und Industriechemikalien. Im aktuell vorgelegten Bewirtschaftungsplan des Landes NRW zur Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie sind mehrere Kläranlagen des Lippeverbandes betroffen, die um eine sogenannte „4. Reinigungsstufe“ erweitert werden sollen.
„Als Wasserwirtschaftsverband nehmen wir das Thema ernst: Intensiv beschäftigen wir uns in unseren Versuchskläranlagen im Lippegebiet mit den Möglichkeiten zur Beseitigung der sogenannten Spurenstoffe, etwa in Bad Sassendorf, in Hünxe und in Dülmen, wo wir die verschiedenen Verfahrensweisen intensiv erproben und ihre Vor- und Nachteile herausfinden wollen“, sagt Stemplewski. Neben der Tatsache, dass keines der Verfahren alle Stoffe vollständig eliminieren kann, ist zu bedenken, dass der „ökologische Fußabdruck“ einer vierten Reinigungsstufe in den Kläranlagen äußerst groß ausfällt. Anders ausgedrückt: Einer weitergehenden Reinigungsleistung steht ein deutlich höherer Energieverbrauch gegenüber.
Der Lippeverband ist überzeugt, „dass wir mehr in der Logik des Wasserkreislaufs und der Kreisläufe anderer Stoffströme denken müssen“. Bei den Spurenstoffen heißt das ganz konkret, dass der gesamte Weg von Medikamenten betrachtet werden muss: von der Produktion über den Verkauf, die Verwendung und letztlich die Entsorgung. Eine Lösung der Probleme rund um die Spurenstoffe am Ende der Kläranlage – „end of pipe“ – ist eine zunächst scheinbar einfache, aber weder technisch optimale noch ökologische, energiefreundliche Lösung!
In Dülmen erprobt der Lippeverband nicht nur auf seiner Kläranlage die Beseitigung von Spurenstoffen – hier technisch mit dem Verfahren der Aktivkohlebehandlung. Im Rahmen des Förderprojektes „Den Spurenstoffen auf der Spur“ (DSADS) hat der Lippeverband über zwei Jahre eine sehr umfassende Kampagne aufgelegt, an der sich Ärzte, Apotheker, viele Bürger und Schulen aktiv beteiligten. Ziel dabei ist die Vermeidung von Spurenstoffen möglichst bereits an der Quelle, im Gesundheitswesen oder beim Verbraucher. Und die Sensibilisierungskampagne hat Spuren hinterlassen! Die Informationen und Aktionen sowie die Berichterstattung darüber sind beim Verbraucher angekommen. Das Wissen und Informationsstand sind deutlich angestiegen, das Entsorgungsverhalten hat sich positiv entwickelt. Die DSADS-Anliegen werden von der Bevölkerung und Akteuren der medizinischen Versorgung in Dülmen aktiv angenommen. Das sieht der Lippeverband als einen großen Erfolg für das Projekt an: Aufklärung und Sensibilisierung sind das bessere Mittel, um Spurenstoffe im Abwasser zu vermeiden – indem sie erst gar nicht ins Wasser gelangen!