Wie aus einem Jungen ein Serien-Autozündler wurde
Ein blasser, schmaler Junge wird in den Gerichtssaal geführt. Er schaut sich verunsichert um – jede Menge Zuhörer, unter anderem eine Schulklasse, und Pressevertreter sind an diesem Morgen ins Unnaer Amtsgericht gekommen -, setzt sich auf einen Stuhl an der Anklagebank und wartet, bis ein Gerichtsdiener ihm die Handschellen abnimmt. Sympathisch sieht er aus, der Junge, der in Kamen vom 7. bis 17. März 19 Autos abgefackelt haben soll (Schadenshöhe rd 90.000 Euro) und die Bürgerinnen und Bürger fassungslos, viele auch wütend gemacht hat.
Nachdem die Vorsitzende Richterin Birgit Vielhaber-Karthaus das Hauptverfahren eröffnet und Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper die Anklageschrift verlesen hat, erzählt Martin K. (Name geändert) mit leiser Stimme, wie aus ihm ein Serien-Autozündler wurde. Er berichtet von einer „Spirale des schulischen und menschlichen Versagens“, in der er gefangen war. Von dem seelischen Druck, unter dem er stand und für den er ein Ventil brauchte. Von der Ablenkung, die ihm das Abfackeln der Autos brachte.
Ich wusste nicht, wie ich den laufenden Prozess aufhalten sollte.“
Er sei schon einmal aus der Bahn geraten, erzählt der 18-Jährige. Er habe Drogen genommen, die Schule geschwänzt und mittags getrunken. Kamen sollte ein Neuanfang sein. Im September vergangenen Jahres sei er hergezogen, seine Eltern finanzierten ihm eine eigene Wohnung nahe des Bahnhofs, er ging zur Schule, mit der Absicht, das Abitur zu machen. „Meine Eltern haben mir viel Vertrauen geschenkt“, sagt der junge Mann.
Martin K. ist sicher, dass er es diesmal packt, dass er sein Leben in den Griff bekommt, dass er sein Abi macht, dass er seine Eltern nicht noch einmal enttäuscht. Aber schon im Dezember fällt er zurück in alte Muster. „Ich habe Haushalt und Schule nicht hinbekommen“, sagt er. K. schwänzt den Unterricht, greift wieder zum Alkohol, droht von der Schule zu fliegen. „Ich wusste nicht, wie ich den laufenden Prozess aufhalten sollte“, gesteht er. Und er habe sich nicht getraut, mit den Eltern zu sprechen. Weil er sie schon wieder vor den Kopf stoßen würde.
Grillanzünder als Brandbeschleuniger
Am 7. März sei er abends zum Kaufland im Zollpost gegangen, um Alkohol zu kaufen, erzählt K. Kurz zuvor habe er von einem Berliner gelesen, der mehr als 100 Autos angezündet hatte – mit Grillanzündern. Und so kaufte K. im Supermarkt nicht nur Wodka, sondern auch Grillanzünder, deren Wirkung als Brandbeschleuniger er noch am selben Abend ausprobierte. Beim ersten Mal legte K. den Grillanzünder noch vor den Autoreifen und steckte ihn an. „Da stieg nur ein bisschen Qualm auf“, sagt er. Am Tag darauf legte er den Grillanzünder auf einem Autoreifen ab und entzündete ihn. Erst stand der Reifen in Flammen, kurz darauf der Motorraum, die Feuerwehr rückte an.
Es war aufregend. Ich brauchte die Ablenkung, sonst wäre ich komplett verzweifelt.
Einmal angefangen zu zündeln, konnte K. nicht mehr aufhören. Ziellos und betrunken war er nachts in Kamen unterwegs und setzte Autos in Brand. Manchmal drei in einer Nacht, einmal direkt gegenüber der Polizeiwache. Als K. begriff, dass die Autobrände das öffentliche und mediale Interesse auf sich zogen, stellte er sein Tun für ein paar Tage ein. Doch der Kick des Zündelns fehlte ihm. „Es war aufregend“, sagt K. „Ich brauchte die Ablenkung, sonst wäre ich komplett verzweifelt.“ So zog der Schüler wieder durch die dunklen Kamener Straßen und fackelte Autos ab. Bis die Polizei ihn am 17. März auf frischer Tat ertappte – mit 1,8 Promille Alkohol im Blut.
Verhandlung wird fortgesetzt
Seither sitzt der 18-Jährige in U-Haft und hatte viel Zeit nachzudenken. Es tue ihm leid, dass er Leute geschädigt habe, die nichts mit seinen Problemen zu tun hatten, sagt er. Doch in der Haft sei ihm bewusst geworden, was der Auslöser für die Taten gewesen sei. Inzwischen sei er nicht nur sicher, dass er ohne Drogen klarkomme. Er habe auch gelernt, seine Probleme anders anzugehen. Er sei sich sicher, so K., „dass ich jetzt wieder funktioniere“.
Ein Urteil wurde heute in dem Prozess nicht verkündet. Nachdem die Öffentlichkeit für die Erörterung des Lebenslaufs von Martin K. und die Vernehmung zweier Angestellten der Justizvollzugsanstalt vom Verfahren ausgeschlossen worden war, unterbrach das Gericht die Hauptverhandlung, um weitere Ermittlungen in dem Fall anzustellen und um zu prüfen, ob der junge Mann weiter in Haft bleibt oder andere Optionen bestehen.